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Freitag
21
August 2020

Prof. Dr. Stefan Breitenstein ist der höchste Chirurg der Schweiz

Will der Patient vom Roboter oder von einem Menschen operiert werden? Im Interview spricht er über die Trends in der Chirurgie.

Herr Breitenstein, Sie haben als Treffpunkt die Sportanlage Meierwiesen in Wetzikon vorgeschlagen. Weshalb sind wir hier?
Stefan Breitenstein: Ich machte früher Leichtathletik und bin auch heute immer mal wieder auf der Anlage. Sport war eine wichtige Lebensschule für mich und ist heute mein Ausgleich. Er hat mich Erfolg und vor allem auch Misserfolg gelehrt. Auch in meiner Laufbahn ist nicht immer alles aufgegangen.

Was bedeutet Misserfolg in der Karriere eines Chirurgen?
Beispielsweise habe auch ich im Studium mal eine Zwischenprüfung nicht bestanden. Im Chirurgenleben sind es dann insbesondere Komplikationen bei Patienten, die man als Misserfolge empfindet. Schliesslich bedeutet das, dass ein Mensch leidet. Damit muss man lernen, umzugehen.

Wie schafft man dies?
Man braucht einen Ausgleich zum Job. Ich wohne in Wetzikon und arbeite in Winterthur. Das schafft ein wenig Distanz. So habe ich zwei Welten. Hier in Wetzikon werde ich weniger als Chirurg wahrgenommen. Mein Vorgänger hat 300 Meter vom Spital entfernt gewohnt. Wenn er in die Migros ging, traf er immer Patienten. Ganz abschalten kann man als Chirurg allerdings nie. Das  Verantwortungsgefühl zieht einen immer ans Krankenbett. Dies ist ein Grund, weshalb man diesem Job häufig eine sehr hohe Priorität beimisst und auch am Wochenende vorbeischaut, wenn es einem Patienten schlecht geht.

Nicht weit von der Sportanlage Meierwiesen entfernt befindet sich das GZO-Spital, wo Sie von 1996 bis 1998 arbeiteten. Wie hat sich die Chirurgie seither verändert?
Sie wurde viel spezialisierter und technischer. Diese Entwicklung wird unaufhaltsam weitergehen.

Was kommt da noch alles auf uns zu?
Die minimalinvasive Chirurgie, man nennt sie auch Knopflochchirurgie, wird sich noch weiterentwickeln. Der Chirurg orientiert sich dabei anhand einer Kamera im Körper. In Zukunft werden wahrscheinlich intraoperative Kamerabilder mit Computertomografie oder Magnetresonanzbildern kombiniert werden können.

Was bringen Knopflochoperationen?
Sie sind schonender für Patienten. Die Eingriffe sind weniger belastend und können bei älteren Menschen sicher durchgeführt werden.

Werden Bilder von komplett aufgeschnittenen Bäuchen, wie man sie heute aus dem Operationssaal kennt, also nach und nach verschwinden?
Nein. Diese Schnitte braucht es immer noch und wird es auch in Zukunft geben. Die offene Chirurgie wird aber vermehrt als eine Art Back-up genutzt werden, wenn die Technologie an ihre Grenzen stösst.

Seit Anfang Juli sind Sie Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie. Beim Amtsantritt sagten Sie, es sei Ihnen ein Anliegen, dass die chirurgische Behandlung trotz Hightech eine menschliche bleibt. Was meinen Sie damit?
Es geht um die Frage, ob ich als Patient lieber von einem Roboter oder von einem Menschen operiert werden will. Ich glaube, die Antwort ist klar. Wir brauchen die Technologie zwar als Unterstützung. Aber ich möchte, dass ein Chirurg oder eine Chirurgin mich als Patient ernst nimmt, verantwortungsbewusst handelt, ein Realitätsbewusstsein und Intuition hat. Wir brauchen Chirurginnen und Chirurgen, die auch soziale Kompetenzen haben und gut in die Gesellschaft integriert sind. Sie sollen eine gesunde Balance zwischen ihrem Beruf und ihrem Privatleben haben. Auch ein Familienleben und Teilzeitarbeit muss möglich sein.

Wir sind bei ethischen Fragen. Da möchte ich gerne einhaken. In der öffentlichen Debatte taucht regelmässig die Frage auf, welche Eingriffe für welche Personen, etwa im hohen Alter, noch sinnvoll sind. Auch unter dem finanziellen Aspekt. Wie sehen Sie das als Chirurg?
Das Alter allein ist keine gute Entscheidungsgrundlage für oder gegen eine Operation. Neben der Lebenserwartung spielt auch die Lebensqualität eine wichtige Rolle. Eine Alterslimite für
Operationen, zum Beispiel bei 75 oder 80 Jahren, würde doch unserem kulturellen Verständnis und den gesellschaftlichen Werten nicht gerecht werden.

Chirurgen werden immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie zu viele unnötige Eingriffe vornähmen, um damit Geld zu verdienen. Ist er berechtigt?
Die ganz grosse Mehrheit der Chirurgen verhält sich sicher nicht so. Es ist aber richtig, dass umsatzbezogene Tarifsysteme, wie sie auch bei uns üblich sind, die Gefahr von falschen Anreizen beinhalten. Der Lösungsansatz heisst Indikationsqualität. Wir müssen uns darum bemühen, Entscheidungen für Operationen auf sinnvolle und messbare medizinische Kriterien abzustützen. Ich finde es wichtig, dass sich die Chirurgen selber aktiv um diese Thematik kümmern.

Wie haben Sie die Corona-Pandemie im Spital erlebt?
Mir ist aufgefallen, dass die Patienten während und zum Teil auch nach dem Lockdown zurückhaltender bezüglich Operationen wurden. Vielleicht hat sich die Einstellung der Bevölkerung geändert. Das hat auch mit der Toleranz von Beschwerden zu tun. Manchmal denke ich aber auch, die Erfahrungen aus der Corona-Krise wären bei uns in der Deutschschweiz nachhaltiger, wenn wir die Krise noch ein wenig stärker gespürt hätten.

Wie meinen Sie das?
Ich war im Welschland in den Ferien. Dort gab es deutlich mehr Covid-19-Betroffene, mehr Schwerkranke und auch dementsprechend mehr betroffene Angehörige. Das gesamte Gesundheitssystem kam stärker an den Anschlag als in der Deutschschweiz. Mir scheinen die Leute im Welschland heute vorsichtiger zu sein. Sie haben viel mehr Respekt vor einer zweiten Welle.

Quelle: Zürcher Oberlander, Samstag, 15. August 2020